LETZTER SONG FÜR EINEN VERDAMMTEN

Das Foto, immer wieder dieses Foto! Ich konnte meine Augen nicht davon losreißen, es war wie ein dunkler Fluch, ein Gefühl tief in mir, wie die Dunkelheit, die mich scheinbar verschluckte. Doch ich war noch immer in der gleichen Welt gefangen mit all meinen Unzulänglichkeiten und ich konnte die Augen nicht verschließen. Neben mir auf dem Bett lag das Telegram, kurz und bündig und dennoch so grausam. Eine Erinnerung an ein Leben, das ich tief in mir begraben glaubte, doch nun kam es aus dem Dunkel, wie ein hämmernder Donnerzug mit gleißendem Licht aus einem tiefen Tunnel bricht. Ich glaubte mich auf den Schienen direkt davor zu befinden, jeden Moment würde er mich ins Jenseits reißen. Doch würde ich dort Vergessen finden? Alles war doch so gut verlaufen, alles hatte irgendwie gepasst und nun? Mein Leben lag in Scherben, an den Zacken klebte das Blut dunkler Erinnerungen. Ich hielt noch immer sein Foto in der Hand. Doch anstatt seinen Tod zu beweinen, fand sich nicht eine Träne. Ich hatte ihn vergessen, zumindest schien ich das zu glauben. All die Jahre hatte er mich nicht mehr einfangen können, ich hatte mein Leben und er das seine. Seins war verwirkt und es scherte mich nicht das Geringste. Wieso auch? Ich ließ das Bild, schwarz weiß und abscheulich, das Bildnis eines versoffenen Monsters, eines Vaters, der sich nicht Vater nennen durfte; das Zeugnis dafür, das Menschen alles verlieren konnten, allen voran ihre Würde, auf das Bett fallen. Und nun sollte er begraben werden. Die Beerdigung stand bevor und ich als sein Sohn war natürlich eingeladen. Konnte er nicht mal, wenn er endlich diese Welt verließ, mich in Ruhe lassen? Was hatte ich alles ertragen? Was war alles passiert? Tief in mir hatte ich all die Erinnerungen begraben und hoffte, sie würden dort bleiben. Doch jetzt, mit dem Brief neben mir, das Foto immer wieder Ziel meines verachtenden Blickes, konnte ich nicht mehr flüchten. Ich stand auf, lief vor dem Bett auf und ab und hielt plötzlich wieder das verdammte Foto in der Hand. Ich warf es auf das Bett und stöhnte. Der Schmerz in mir war nicht einer den man fühlen konnte, sondern vielmehr schien die Welt nur noch daraus zu bestehen. Mein Blick schweifte durch das Zimmer. Da war meine Tasche mit meiner Wäsche, da war die Gitarre; mein Leben im Spiegelbild der wenigen Habseligkeiten abgebildet. Was hatte ich denn geschafft? Einen Vertrag? Nein! Was dann? Ein Leben auf der Straße, das war, was ich besaß und jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren der Flucht hatte mich dieses verdammte Telegram erreicht und ich fürchtete, selbst das wenige was ich besaß, zu verlieren. Das Foto hatte mich erschreckt und ich hätte die alte Dame am liebsten weggeschupst, als sie in der Zimmertür stand mit den Telegram. Mein Vater war doch so ein toller Mensch gewesen und es täte ihr so leid. Ich würde sicherlich auch mal so ein großer Star werden. Ich hatte versucht zu lächeln, doch der Schrecken war ihr ins Gesicht geschrieben gewesen. Ich hatte ihr das Telegramm aus der Hand gerissen, wollte die Tür schon zuschieben, als sie mir das Foto, wahrscheinlich aus irgendeinem Magazin heraus geschnitten, reichte. Dann war sie verschwunden und ich allein mit der Wahrheit. So war er endlich gegangen von dieser Welt, nachdem er mich und drei weitere Jungen sowie sieben Ehefrauen ins Unglück gestürzt hatte. Meine Flucht schien vergebens, hier war ich wieder und er war dennoch irgendwie um mich. Seien es die Erinnerungen, die mich nun heimsuchten, als ich in den Spiegel blickte, oder das Telegram, mein altes Leben hatte mich mit einem Augenblick eingeholt. Die Frage war nicht ausgesprochen, doch die Entscheidung drückte tief auf mein Herz. Sollte ich einem Monster die letzte Ehre erweisen und seiner Beerdigung beiwohnen? Oft hatte ich darüber nachgedacht, mir sogar gewünscht er würde endlich sterben, um dem ewigen Schmerz und der Schuld zu entfliehen. Doch jetzt, als dieser Wunsch belastende Wirklichkeit wurde, wusste ich nicht weiter. Ich verließ mein kleines Motelzimmer, ging die Straße hinunter und versuchte mich auf das langsame Atmen zu konzentrieren. Die Hitze des Tages war verschwunden, aber tief in mir begann ein Feuer zu brennen, dass dem leichten kühlen Wind jegliche Kraft nahm. Schweiß stand mir auf der Stirn, ich blinzelte und fuhr mir durch das dichte Haar. Meine Schuhe klickten beunruhigend auf dem Asphalt. Die Nacht hing über alledem und dennoch mochte die Dunkelheit meinen Geist nicht schlafen legen. Die Unruhe in mir, die Fragen, Erinnerungen, Ängste und all das Gewirr einer verdammten Kindheit tobten in mir. Das Städtchen war ein kleines Kaff, doch ich hatte hier schon ganz gut Geld machen können in den Bars. Zumindest für meine Verhältnisse. Die nächste Kneipe war das "Come In". Dort hatte ich vorgestern gespielt und das Trinkgeld war gut gewesen. Ich stieg die Stufen hinauf, drückte mich gegen die Tür und versuchte all meine erwachten Probleme wegzublinzeln. Ich war jetzt wieder "Colt", der Typ mit der Gitarre, dessen Seele dem Rock und Blues gehörte. Die Bar war für die späte Zeit, und obschon es Sonntag war, immer noch gut gefüllt. Sally die Barkeeperin strahlte, als sich ihre braunen Augen an mir verfingen. Ich lächelte so gut ich konnte und hoffte nicht den gleichen Schrecken wie bei der Motelfrau zu verbreiten. Ich wollte trinken, Whiskey und zwar ordentlich. Schließlich hatte ich etwas zu ertränken, eine Hand aus den Tiefen meines Lebens, die nun wieder nach mir griff, mich ins Verderben zog. Ich hüpfte förmlich auf den Barkhocker, wie ein Cowboy auf sein Ross und klopfte mit den Fingern auf die Theke. Sally eilte herbei, ihr Lächeln jedoch verblasste, als sie vor mir stand. In ihren Augen schien Ungewissheit zu schimmern. "Na was geht?" "Whiskey, ohne Eis." Sie nickte und kümmerte sich darum. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir und fragte mich, warum man mir den Schrecken so ansah? Was war jetzt anders? Sprach man über mich, weil sie wussten ich war der Sohn eines Countrystars und der einzige, der wusste wie man Gitarre spielt? Oder war es etwas anderes? Ich warf einen Blick zur kleinen Bühne. Gestern war ich vor dem billigen Mikrofon auf einem kleinen Hocker gesessen und hatte mir die Seele freigespielt, gesungen und mich treiben lassen. Die Gäste hingen mir an den Lippen, klopften zum Rhythmus und wir hatten eine verdammt gute Nacht gehabt. Jetzt säuselte nur sanfter Pop aus den Lautsprechern von der Soundanlage. Die Leute waren in ihre Gespräche vertieft, drei ältere Männer spielten Karten. Als ich mich wieder umdrehte, stand der Whiskey vor mir. Ich leckte mir die Lippen, schnappte das Glas und schüttete es runter. Die Kehle brannte, aber es war ein Schmerz, der mir irgendwie das Gefühl gab heimzukehren, mich von der Wirklichkeit zu entfernen. "Nummer zwei kommt gleich!", rief Sally und ich nickte nur. Bei den Kartenspielern erkannte ich einen der Gäste von gestern. Er lächelte mir zu, als er meinen Blick spürte. Ich versuchte es wieder mit einem Lächeln, doch er war schon in sein neues Blatt vertieft. Das nächste Glas erwischte mich kalt. Es spülte eine Erinnerung hervor, so dass ich mich verschluckte. Für den Augenblick spürte ich den Schlag im Gesicht, den Hauch von Alkohol, den Gestank von Schweiß und ich glaubte seine Stimme zu hören. Ich ließ das Glas fallen, strauchelte auf dem Barhocker und konnte mich gerade noch so an der Theke festkrallen, um nicht nach hinten über zu fallen. Sally kam wieder, sie beugte sich vor. Ihre Augen große Monde und ich roch ihr süßes Parfum. "Was is' los mit dir?", flüsterte sie verwundert. Die Sorge meiner Mutter war ihr ins Gesicht geschrieben. Ich zuckte mit den Achseln, versuchte mich wieder richtig hinzusetzen und sagte nichts. Nach einer Weile der Stille, abgesehen vom Raunen der Stimmen der Gäste und dem Gesäusel des Plastikpops, rief ich: "Wodka… pur…" Sally schüttelte den Kopf. Ich fischte in meiner Hosentasche und warf einen Zwanziger auf die Theke. "Los!", rief ich ihr zu. Sie erstarrte, schüttelte den Kopf, doch mein Blick belehrte sie eines Besseren und sie kam zögerlich meiner Bestellung nach. Beim zweiten Nachfüllen, entriss ich ihr die Flasche. Sie sah sich Hilfe suchend um. Doch die Leute kümmerten sich nicht. Klar, jedes Kaff hatte seine Säufer und ich würde in ein paar Tagen eh vergessen sein. Nicht so wie mein verdammter Vater. Wie oft hatte ich es ertragen müssen, seine Fratze auf den Magazinen zu sehen. Interviews, Gastauftritte in TV-Shows, all der ganze Kram. Aber fragte jemand danach wie es war sein Sohn zu sein? Klar, er hatte so seine Phasen. Das wusste jeder, so waren Künstler eben. Seien es Drogen oder Alkohol, das war für die Fans gleich oder eben cool. Sie waren ja auch nicht die Kinder, die Schläge, Erniedrigung, Trauer und Verderben hatten ertragen müssen, damit der Mann zum Star wird. Ich drehte mich auf dem Stuhl, und rief plötzlich in die Menge: "Warum mögt ihr meinen Vater so? Was hat er, dass ihr toll findet?" Erst reagierte niemand. Ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Sally sich die Flasche wieder holte und das Glas wegstellte. Sie rief meinen Namen, doch ich rutschte vom Stuhl, strauchelte und wankte, aber ich war noch nicht am Ende. Noch war ich brauchbar, noch konnte ich ihnen was zeigen. "Wollt ihr mal was sehen?", fragte ich. Der eine am Kartenspielertisch, der mich am Abend zuvor so angefeuert hatte bei einem meiner Solos, sah mich an und ließ die Karten auf den Tisch vor sich fallen. "Was ist denn los?", spuckte ich. Er schüttelte langsam den Kopf. Seine Spielkameraden nickten ihm zustimmend zu. "Also gut… ich zeig Euch mal was." Ich knöpfte mein Hemd auf und drehte meine Arme, so dass sie die Verbrennungen sehen konnten. Sie schauten weg! "Sein Werk! Der große Countrystar… Aber ihr wollt es nicht sehen! Ihr wollt es nicht hören, stimmt′'s?" "Colt… Es ist genug. Es tut mir Leid mit Deinem Vater… Aber so ist das Leben.", meinte Sally hinter mir. Ich wirbelte herum. In meinen Augen sah sie den Hass, schien es aber als Drohung zu deuten. Sie ging unbewusst ein Schritt zurück, bis ihr Rücken gegen das Spiegelregal lehnte, wo die Whiskeyflaschen standen. Dann sah ich die Gitarre bei den Stufen zur Bühne hinauf, an der Wand lehnend. Ich driftete zwischen den Stühlen und Tischen zur Bühne, riss die Gitarre an mich. Das Mikro war zwar nicht eingeschaltet, aber ich hatte genug Kraft in meiner Stimme und Wut im Bauch. "Es reicht! Mein Vater war Dreck und ich will ihn nicht verabschieden." Der Alkohol ließ plötzlich die Welt verschwimmen, als ich in die Saiten griff. Doch ich entdeckte schnell: Es waren Tränen. Meine Finger schienen taub, bis ich endlich den Akkord fand, den ich suchte. Die Leute starrten. Sally schüttelte den Kopf. Dann stand der alte Herr vom Kartentisch auf, setzte sich direkt vor die Bühne. Als ich inne hielt und unsere Blicke sich trafen nickte er: "Jetzt spiel, Sohn. Lass es raus! Das muss sein." Und dann spielte ich! Ich wirbelte herum, ich griff in die Saiten. Anfangs war es nur dumpfer Bass, dann ging es hinunter in die beißenden Töne und nach und nach erklang ein Blues, wie man ihn hier noch nie gehört hatte. Ich spielte und ich sang und in meinen Augen hingen all die Bilder meines Lebens. Und dazwischen war er und die Erkenntnis, er hatte verloren nicht ich. Nach etwa einer Stunde brach ich förmlich zusammen. Ich merkte wie der Alkohol mich holte, mich fort trug. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bett in meinem Zimmer. Auf dem Stuhl neben dem Nachttisch saß Sally, in einem Taschenbuch lesend. Ich sah sie fragend an. "Das war das beste Konzert, das ich gehört habe. Dein Vater würde erblassen vor Neid." Ich nickte, lächelte und griff nach dem Foto, das auf dem Nachtisch lag. Sie folgte meiner Bewegung und ich erblickte wieder Sorge in ihren rehbraunen Augen. Als ich es zerriss, senkte sie den Blick. Schließlich schlief ich ein. Doch Stimmen holten mich zurück. Ich blinzelte und es brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass Sally wohl das Radio angelassen hatte. Sie war nicht da, als ich hörte wie es aus dem Radio hieß: "Er war ein ganz Großer gewesen, dessen Straße zum Erfolg durch die Leben vieler Menschen erst ermöglicht wurde. Und vor Gott wird er sich verantworten müssen, dass trotz all seiner Musik, er nicht immer das Richtige tat…" Ich lächelte und sagte: "Fahr zur Hölle, ich hab noch Zeit!" Dann spielten sie einen seiner großen Erfolge und ich sank wieder in den Schlaf.
LETZTER SONG FÜR EINEN VERDAMMTEN (2007) - mnebeling.blogspot.com
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Kurzgeschichten
Kategorie: Entdeckt
Erstellt von: Badfinger
Veröffentlicht am: 18.05.2007 20:47
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